Kaum ist ein Steinbockkind der Sprache mächtig, beginnt es sich zu entschuldigen. Egal, ob dieses Zeichen den Aszendenten beherrscht oder ob die Sonne in ihm aufgeht, die Entschuldigungen fließen dem Steinbock auch wegen Kleinigkeiten über die Lippen. Manch einer lächelt verlegen, wenn er etwas sagt, was auch nur unhöflich klingen könnte. Dem Schützen ist so gut wie nichts peinlich, dem Steinbock fast alles. Das kalendarische Jahr beginnt am 1. Januar. Das astrologische dagegen erst Mitte März. Wenn die Sonne am 23. Dezember in das Zeichen des Steinbocks tritt, finden die in dieser Zeit Geborenen eine Konkurrenz vor, die sie nie gewinnen können. Obwohl das nur auf die ersten Geburtstage in diesem Zeichen zutrifft, scheint sich dieses Gefühl auf alle Steinböcke auszudehnen. Die Hälfte seines Geburtstages kann das an Weihnachten geborene Kind ohnehin vergessen. Der Zweifel, ob es jetzt genauso viele Geschenke bekommt wie andere Geburtstagskinder oder nur halb so viele, wird ein Leben lang an ihm nagen. Für ihn und auch für sie ist das Glas immer halb leer.
Als Kinderparty mag eine Feier am frühen Nachmittag noch angehen. Alle Mütter räumen ihre Kleinen am Weihnachtstag gerne für ein paar Stunden aus dem Weg. Der Teenager hat es schon schwerer. Die meisten Weihnachtskinder feiern dann, wenn sie älter sind, am Abend davor. Am selben Tag wie der christliche Erlöser geboren zu sein, mag dem Kind zunächst nicht bewußt werden. Aber die Reaktion der Umwelt macht ihm bald klar, daß es einen höchst unpassenden Geburtstag hat – und es beginnt sich zu entschuldigen.
Der Planetenherrscher dieses Zeichens ist Saturn, der Herr der Zeit, der Hüter der Schwelle. Eine kluge Freundin hat den Steinbock als eine Art Verfassungsgericht bezeichnet. So streng und anspruchsvoll und auch so würdig wie diese Instanz ist jeder Steinbockmann und jede Steinbockfrau. Der Ehrgeiz der Steinböcke ist legendär, und die Ausdauer, mit der sie ihr Ziel anvisieren und schließlich erreichen, bewundernswert. Typisch dafür ist Konrad Adenauer, der darüber hinaus noch mit einem hohen Alter gesegnet war, aber auch Johannes Rau, dessen jovialer Schützeaszendent oft vergessen ließ, daß seine Steinbocksonne trotz großer Widerstände beharrlich das höchste Amt im Staat angestrebt und erklettert hat.
Der Steinbock hält krampfhaft fest, was irgendein Halt zu sein verspricht, und sei es ein Strohhalm. Das tut er nicht aus optimistischen Gründen, sondern weil er es als seine Aufgabe betrachtet. Er steht zwischen dem rastlosen Schützen und dem turbulenten Wassermann. Wer, wenn nicht er, sollte denn dafür sorgen, daß überhaupt etwas in die Welt gestellt wird, was Substanz hat. “Alles hat seine Zeit.” Dieses Prinzip vertritt der Steinbock geradezu leidenschaftlich. Er ist ein Fanatiker der Rechzeitigkeit. Dem widerspricht keineswegs, daß Steinböcke auch trödeln können oder unpünktlich sind. Aber die Folgen des Unzeitigen sind keinem Zeichen so bewußt. Da läßt Chronos, wie Saturn im griechischem heißt, nicht mit sich spaßen.
Kalkulierende Vorsicht, zähes Festhalten, kleinlicher Geiz, krasser Matrialismus und triumphierende Rechthaberei – all diese unschönen Eigenschaften sagt man diesem Zeichen nach. Aber er hat auch noch ein anderes Gesicht. Seine Triebhaftigkeit hat eine stark sexuelle Komponente, für die er sich ebenfalls gerne entschuldigt. Auf alten astrologischen Darstellungen trägt er einen Fischschwanz, als würde er aus einem Meer von Begierden auftauchen. Er ist eine Schimäre.
Philip Metman, auf dessen subtile Gedanken zum Tierkreis wir nicht verzichten wollen, leitet den Mythos des Ziegenfisches aus eine anderen Genealogie ab als der gängigen, die das melancholische Temperament dem Saturn zuschreibt, der seinen Vater Uranus auf Geheiß seiner Mutter Hera kastriert hat und damit rechnen mußte, daß sich der Fluch der bösen Tat gegen ihn selber richtet. Was auch geschah.
Metmans Version ist menschenfreundlicher und uns näher. Hephaistos, der kunstfertige Götterschmied, wird von seiner Mutter Hera schon als Säugling ob seiner Häßlichkeit auf die Erde geworfen, was seine optische Erscheinung nicht verbessert hat. Ästhetik ist nicht umsonst ein griechisches Wort. Und ihre Götter zeigen sich da sehr heikel. Seither hinkt der Deus Faber. (Alle steinbockbetonten Menschen haben Probleme mit ihren Knien, als sei ihnen die Sturzerfahrung des Hephaistos eingeschrieben.) Er hilft Zeus bei der Kopfgeburt der Athene und fordert sie als Gegenleistung zur Braut, ein Handel, auf den sich Zeus und Athene einlassen. Als er sich ihr nähert, ist er so erregt, daß sein Samen vorzeitig in den Schoß der Erde Gaia fällt. Eine ejaculatio praecox kann die Geliebte mit hochgezogenen Augenbrauen quittieren, sie kann aber auch in Gelächter ausbrechen. In dieser delikaten Angelegenheit geht es nicht um Schuld, sondern um Scham. Doch aus dem Samen der Götter entsteht immer irgendetwas, so auch hier. Die kluge Athene lacht nicht, sondern nimmt das Kind des Hephaistos, den Erechtheus, das ihr die Erdmutter reicht, als ihr eigenes an. Mit dieser schönen Geste versöhnt sie das männliche Versagen ihres Liebhabers, das ja nicht zu wenig, sondern zuviel Begehren verrät. Die Athener haben dem Sohn einen eigenen Altar neben dem der Athene, der Akropolis, gebaut, das Erechtheum.
Hephaistos ist der olympische Wiedergänger des Titanen Saturn und wir sind geneigt, ihn als den eigentlichen Stammvater der Steinbockgeborenen anzusehen. Nicht die Schuld beugt ihm das Knie, sondern die Angst, vor Scham in den Boden zu versinken. Seine Sensibilität für die richtige Form, auch in der Höflichkeit, im Umgang mit den anderen, liegt bei ihm gleich unter der Haut. Das Wort fremdschämen ist wohl seine Schöpfung. Den richtigen Augenblick nicht zu verpassen – nur ein Steinbock weiß so genau, wie schwierig das ist. Dieses Wissen verleiht ihm andererseits viel Güte und Duldsamkeit für die Schwächen seiner Mitmenschen. Er ist der verständnisvollste Zuhörer, wenn man sich so richtig ausheulen will. Vielleicht ist das auch der Grund, warum der christliche Erlöser seinen Geburtstag zusammen mit dem Steinböckchen feiert. Und darauf darf es zu Recht stolz sein.
Wunderbar. Einfach wunderbar. Ist das eine Freude dich zu lesen. Weiter weiter weiter Dein liserl
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