Der Zwilling liebt Diskussionen, die er gerne auch zuspitzt. Er sucht und findet das treffende Wort, die witzige Pointe, das Gerücht und den Klatsch. Kommunikation ist sein Lebenselexier. Er ist der homo loquat, der geschwätzige Mensch. Nur ein Zwilling, Jürgen Habermas, konnte auf den Titel “Theorie des kommunikativen Handelns kommen”. Der Zwilling Rainald Goetz war erfolgreich mit dem Buch, das den schönen Titel “Loslabern” trägt. Feuerzeichen wie Widder, Löwen oder Schützen würden sagen, entweder man labert oder man tut was. Für den Zwilling kann das Reden das Handeln ersetzen, deshalb ist seine Aggression nie brachial. Er zieht die elegante Intrige oder die vernichtende Kritik vor, was ja auch sehr wirkungsvoll sein kann.
Intelligenz heißt, von sich selbst absehen zu können. Das kann der Zwilling sehr gut. Er ist das erste Luftzeichen und sein Herrscher ein Gott, der sich damals im Olymp mit einer bescheidenen Rolle als Bote und Vermittler zufrieden geben mußte: der heute so übermächtige und allgegenwärtige Gott Merkur, zuständig für Händler und Diebe. Es ist nicht verwunderlich, daß der Vater des Internets Tim Berners-Lee im Sternzeichen der Zwilllinge geboren ist. Und im Internet, das es mit den Eigentumsrechten auch nicht so genau nimmt, hat man das Gefühl, daß dort nur noch Zwillingsgeborene ihr Wesen treiben, was natürlich nicht der Fall ist. Wir haben alle unseren Merkur irgendwo im Horoskop stehen, der sich auf die jeweils eigene Weise durch das Netz angesprochen fühlt. In den Zeitungen und Verlagen, in der medialen Welt sitzen eher Jungfrauen, deren Herrscher ebenfalls Merkur ist. Aber die sind fleißig und wollen Recht haben.
Zwillinge sind neugierig, aber nicht wie der Widder, der den Stein umdreht, um das Gewürm ans Licht zu zerren. Sie tasten den Stein lieber ab oder verwickeln ihn in ein Gespräch, in der Hoffnung, daß er seine Geheimnisse früher oder später schon preisgeben wird. Der Zwilling bringt dabei das Kunststück fertig, tatsächlich viel über den Gegenstand seiner Untersuchungen zu erfahren. Sein Wissensdurst und seine Kenntnisse sind geradezu wikipedisch. Deshalb findet man ihn auch oft in der Forschung.
Betrachtet man den Tierkreis evolutionär, so steht der Zwilling – nach dem kraftvollen Anfang des Widders, nach dem nährenden Wachstum des Stiers – für das menschliche Kind, das seine Umgebung mit den Händen erkundet. Die erstaunlich geschickte Handhabung, die bei einem so wortfixiertem Zeichen doch sehr überrascht, scheint dem Zwilling, egal ob männlich oder weiblich, in die Wiege gelegt worden zu sein. Sie können mit den Händen denken, deshalb sollte man die Reparatur eines Gegenstandes getrost einem Zwilling überlassen.
Ein Zwilling würde nie fragen: “Wer bin ich – und wenn ja wieviele?” Er kommt ja schon als zweifacher auf die Welt. Was sein Liebesleben angeht, so erinnert es an die Kugeln aus Platos Symposion, die getrennt wurden und wieder zusammenfinden wollen. Das Geschlecht spielt dabei keine Rolle. Es gibt eine Darstellung des Merkur von Hans Baldung Grien, dem Federchen auf dem Hintern wachsen und der statt eines Geschlechts Flügel trägt. Das Wort vögeln ist anscheinend schon sehr alt. So manches homosexuelle Paar kommt gerne im Zwillingslook daher.
Wenn wir den Zwilling unter seiner berüchtigten Oberflächlichkeit tiefer verstehen wollen, dann müssen wir über den griechischen Gott hinausgehen. Ein älterer Zwillingsmythos findet sich im babylonischen Gilgamesch-Epos. Dort heißt es, daß Schamasch, der Sonnengott, hinter den Zwillingsbergen aufgeht. Diese Berge sind nicht auf der Erde zu finden, sondern ein Symbol für das Sternbild am Firmament. Die Sonne geht also im Zeichen des Zwillings auf, was das Epos, wie alle Mythen, als kosmische Erzählung kennzeichnet.
Der selbstherrliche tyrannische König Gilgamesch, halb göttlich, halb menschlich, bekommt einen sterblichen Gefährten zur Seite, der genauso stark ist wie er, Enkidu. Der lebt mit den Tieren, vertreibt die Jäger und besiegt Gilgamesch. Die beiden werden unzertrennliche Freunde. Enkidu, der Waldschrat, verwandelt durch seine Güte Gilgamesch in einen Wohltäter und Heros. Jeder Zwillingsgeborene trägt den menschlichen und den göttlichen Zwilling in sich. Bei den Babyloniern, die sich keine Illusionen über ihre Götter gemacht haben, ist der göttliche Teil der unberechenbare und tyrannische, der menschliche Teil dagegen der barmherzige, zivilisierende. Als Enkidu stirbt, bricht Gilgamesch in eine Totenklage aus, die zu den ältesten Gesängen der Menschheit gehört und einem heute noch die Tränen in die Augen treibt. Nicht der Tod war dem Menschen neu, sondern das wunderbare herzzerreissende Lied über den Verlust eines geliebten Menschen. Und auch das gehört zur Wortgewalt der Zwillinge. Obwohl man es auch übertreiben kann, wie der Zwilling Richard Wagner beweist.
Übrigens, wenn man einem Zwilling begegnet, weiß man vorher nie, ob es der himmlische oder der irdische ist. Das weiß er wohl selbst nicht so genau.
( Die Zeichnung stammt von meiner damals fünfjährigen Tochter, die kein Zwilling ist.)